Schmutzige Schönheit
Schmutzige Schönheit
Mystischer Katholizismus und lebhafte Intellektualität, verwahrloste Gassen und schmucke Bürgerhäuser: In vielen Werken österreichischer Autoren finden sich die grellen Gegensätze Neapels abgebildet
Staubschichten bedecken leere Vitrinen. Irgendwo wird gebohrt und gehämmert. Ein riesengroßer Saal, auf dessen Steinboden astronomische Meridiane verzeichnet sind, liegt im Dunkeln. Ein Hof, in dem Palmen wachsen, ist versperrt: „Lavori in Corso“, vermerkt ein Hinweisschild. Es wird hier umgebaut.
Dem Museo Nazionale di Archeologia in Neapel merkt man nicht gleich an, dass es mit seinen Fresken und Mosaiken aus dem nahen Pompeji sowie seinen antiken Skulpturen zu den wichtigsten Kunststätten Italiens zählt. Ebenso wenig einladend wie das leicht verwahrloste Museum wirkt der Eingang zur Kapelle des Pio Monte della Misericordia: Die unscheinbare Holztür scheint in eine Abstellkammer zu führen, tatsächlich macht sie den Weg frei zu einer der raffiniertesten Kompositionen des Barockmalers Caravaggio. Auch das Museo di Capodimonte tritt nicht gerade wie ein Weltklassemuseum mit exzellenter Malerei-Sammlung auf. Wer die Kunstschätze Neapels entdecken will, muss einige Hindernisse überwinden.
Der Wahlkärntner Humbert Fink, 1933 geboren im nahen Salerno, nannte Neapel in seinem 1979 publizierten Essay „Das falsche Gold der Hinterhöfe“ ein „verfaulendes Paradies, dessen atemberaubende Schönheit mir seit meiner Kindheit immer unvergesslich bleiben wird“. Man könne, so der 1992 verstorbene Schriftsteller und Journalist weiter, die Stadt „nur herzzerreißend lieben oder mörderisch hassen“.
Matthias Prikoszovits, Lektor des Österreichischen Austauschdienstes am Università degli studi di Napoli „LOrientale“, steht seiner aktuellen Wahlheimat differenzierter gegenüber: „Man muss Nischen in der Stadt finden. Ich bin zwar nach zwei Monaten trotz aller Vorsicht überfallen worden; andererseits gibt es zahlreiche Orte, die wunderschön sind.“ Prikoszovits lehrt in Neapel Deutsch – und vermittelt dabei auch österreichische Spezifika. „Die wichtigsten österreichischen Schriftsteller kennt man hier, etwa Arthur Schnitzler oder Thomas Bernhard. Bei Letzterem wissen die Studierenden, dass er ein ‚Nestbeschmutzer‘ war und sehr kritisch gegenüber Österreich“, so der Germanist.
Als Studienort für Sprachen und Literatur besitzt Neapel seit je größere Bedeutung als andere italienische Städte wie Rom oder Mailand. Prikoszovits’ Kollegin Daniela Alloca, die in der Nähe Neapels aufgewachsen ist, resümiert: „In den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts avancierte Neapel zum Kunstzentrum, das internationale Literaten anzog. Ingeborg Bachmann besuchte die Stadt ebenso wie Joseph Beuys und Andy Warhol.“ Bachmann verfasste während ihrer Treffen mit dem ortsansässigen deutschen Komponisten Hans Werner Henze Teile ihrer lyrischen Arbeit „Anrufung des Großen Bären“: „Es ist Feuer unter der Erde / und flüssiger Stein. / Es ist ein Strom unter der Erde, / der strömt in uns ein. / Es ist ein Strom unter der Erde, / der sengt das Gebein. / Es kommt ein großes Feuer, / es kommt ein Strom über die Erde“, notiert sie darin – unweigerlich fühlt man sich an den in der Ferne schimmernden Vesuv erinnert, dessen Vulkanschmelzfluss Pompeji einst unter sich begrub und konservierte.
Dass die Stadt nach wie vor eine rege intellektuelle Szene besitzt, beweist ein nächtlicher Spaziergang in Begleitung von Daniela Alloca. Vor einem Lokal trifft sie Bekannte, man wählt als Zielort das „Perditempo“ – zu deutsch: „Zeitverschwendung“ –, eine charmante Mischung aus Café und Buchhandlung auf der Piazza Dante. Man trinkt Rotwein, unterhält sich über italienische Philosophen und begibt sich schließlich in den ersten Stock. Dort findet sich linksgerichtete politische Literatur sowie Belletristik in den Regalen – darunter italienische Übersetzungen einiger Werke von Hugo von Hofmannsthal und Karl Kraus. An einem der Tische sind Männer mit Rastalocken und Zigaretten zwischen den Fingern in dickleibige Bücher vertieft.
An Orten wie dem „Perditempo“ versammelt sich der politisch engagierte Widerpart zu jenem Neapel, dessen Volksfrömmigkeit sich in der Figur der 27-jährigen Annunziata in Franz Werfels „Die Geschwister von Neapel“ personifiziert fand. Diese hält sich mit Vorliebe in möglichst schmucklosen Kirchen auf und gibt sich flagellantischen Erlebnissen hin – langes Knien erzeugt Schmerzzustände: „Ihre Hände und Füße wurden steinkalt, und es war ihr, als spräche sie triumphierend zu sich selbst: Ich trockne aus, ich trockne ganz aus. Dieses Gefühl des schmerzhaften Versteinerns aber erfüllte sie mit einer besonderen, einer bittersüßen Genugtuung, als entziehe sie auf diese Weise der Welt ein lieblich anschmiegsames Gut.“ Ihrer rigiden Religiosität verleihen die Neapolitaner bis heute lebendigen Ausdruck: An zahlreichen Hausmauern hängen selbst gebastelte Marienaltäre, deren Erscheinungsdichte und Größe in ärmeren Gegenden zuzunehmen scheinen, umrahmt von Neonleuchten, blinkenden Lichtern, geschmückt mit mehr oder weniger frischen Blumen, mitunter solchen aus Plastik.
Zudem zeugt bis heute ein archaisch anmutendes Spektakel, das Blutwunder des San Gennaro, vom nahezu mystischen Katholizismus Süditaliens: Bei einer Prozession verflüssigt sich dreimal im Jahr das gestockte Blut des Heiligen, das in zwei Ampullen im Dom aufbewahrt wird – geht es nach der Religion, sind dafür höhere Mächte, geht es nach der Wissenschaft, sind dafür so genannte thixotropische Stoffe verantwortlich. Der Kärntner Büchner-Preisträger Josef Winkler widmete dem Ritual in seinem Roman „Friedhof der bitteren Orangen“ (1990), einer alptraumhaften Abrechnung mit dem Katholizismus, eine Szene. Darin heißt es: „Ein Priester ließ einen Ministranten mit einer Kerze das Gefäß anleuchten, in dem das Blut des Schutzheiligen von Neapel verborgen sein soll, bewegte die Phiole mehrere Male hin und her, machte eine verneinende Gebärde und sagte: Es ist noch hart!“ Und weiter: „Schau, sagte ein junger Mönch in neapolitanischem Dialekt und fasste seinen Kopf mit beiden Händen, ich bin nur ein armseliger Mensch, und es ist mir egal, ob ich lebe oder nicht, aber hier vor deinen Füßen will ich mir sofort die Stirn zerschmettern, wenn du mir versprichst, wenn das Blut von San Gennar wieder flüssig wird, in den Schoß der Mutter Kirche zurückzukehren und den katholischen Glauben wieder anzunehmen.“
Für barocke Dramatik bietet der Dom mit der üppig dekorierten Gennaro-Kapelle tatsächlich die perfekte Kulisse: Der Altar beeindruckt mit seiner glamourösen Silberfront, überlebensgroße Skulpturen von Bischöfen reihen sich aneinander, die pompös geschwungene Architektur vermag selbst nüchtern veranlagten Zeitgenossen zu imponieren.
Raffaella Morra, eine quirlige Neapolitanerin, lacht lauthals, als sie auf das Geheimnis der Blutverflüssigung angesprochen wird. „Schon im Mittelalter war Neapel ein Zentrum der Alchimie – man wird für dieses Wunder also Mittel und Wege gefunden haben.“ Die Tochter des Kunstsammlers Peppe Morra betreibt das Museo Nitsch, das dem österreichischen Aktionisten Hermann Nitsch gewidmet ist. Wie im und um den Dom herum stößt man auch in dem ehemaligen E-Werk auf zahlreiche Glasbehälter mit Flüssigkeiten, auf Heiligenbilder und Kirchengewänder; zudem werden Aktionsrelikte ausgestellt, dazu eine Serie schwarzer Schüttbilder sowie zahlose Aktionsfotografien. „In Neapel stößt die Kunst von Hermann Nitsch aufgrund des katholischen Hintergrunds auf großes Interesse“, erzählt Morra. Bisweilen treten in der Rezeption freilich Missverständnisse auf: „Im Vorjahr gab es in der Stadt eine öffentliche Nitsch-Aktion“, erinnert sich die sympathische Kunstkuratorin. „Damals kam zufällig eine alte Frau vorbei, die aus Ehrfurcht ihre Hand ans Herz presste. Sie dachte, es handle sich um eine religiöse Prozession!“ Das Museum, das mit großer Sensibilität gestaltet wurde, verfügt über prachtvolle Räumlichkeiten und eine Terrasse mit einem nicht minder grandiosen Panoramablick, von dem aus sich nicht nur sämtliche Sehenswürdigkeiten der kampanischen Hauptstadt – Vesuv inklusive – erschließen, sondern auch die Hintergärten etlicher heruntergekommener Häuser.
Die Gegensätze liegen in Neapel bisweilen nur eine einzige U-Bahnstation auseinander. Von Montesanto mit seinen dunklen Hauseingängen und engen Gassen, durch die Mopedfahrer mit Todesverachtung rasen, benötigt die Metronapoli drei Minuten auf den Vomero, Neapels Edelbezirk mit seinen aufgeputzten Bürgerhäusern, hübschen Restaurants und Luxuskinderwägen; selbst der Straßenverkehr scheint auf diesem Hügel des Großbürgertums zivilisierter. Die nahezu klassischen Szenen innerstädtischen Alltags – ein Greis marschiert trotz roter Ampel und heranbrausender Autos gemächlich über den Corso Umberto I; ein Zahnloser trägt seine Gans spazieren; Buben besprühen Passanten mit Rasierschaum; Straßenhändler bieten Fälschungen jeglicher Luxusgegenstände feil – sind in diesem Randbezirk kaum vorstellbar.
Franz Werfel nannte den Vomero einen „vornehm-abgesonderten Stadtteil“ – und siedelt hier eine Schlüsselszene seines Romans an: Die Auflehnung der Geschwister gegen ihren tyrannischen Vater nimmt im (heute nicht mehr existenten) Grandhotel Bertolini ihren Anfang; auf einem verbotenerweise besuchten Ball verliebt sich eine der Schwestern in einen Briten. Die Atmosphäre des illegalen Schäferstündchens beschreibt Werfel so: „Die müde Bewegung der schmalen Zypressenwipfel glich dem unablässig verneinenden Wink warnender Finger. Ein halber Nachmitternachtsmond arbeitete wie mit ätzenden Säuren an der Entkörperung der Dinge. Sie traten auf eine freie, von Kletterwuchs umwucherte Bastion. Die Welt war ein photographisches Negativ geworden.“ Unbelastet von derlei Symbolismus, bildet der Parco Grifeo heute das grüne Herz einer Bobo-Gegend, die gegen Wochenende ihre Bewohner anzieht. Spielende Kinder, verliebte Pärchen und soignierte ältere Herren erwecken den Eindruck, als würde man sich in einer durchschnittlichen europäischen Großstadt befinden. Der Schmutz, der die neapolitanische Schönheit bisweilen bedeckt, scheint weit entfernt.
KASTEN
Falschgold und Frömmigkeit
Österreichische Literatur, Schauplatz Neapel
Der in Prag geborene Schriftsteller Franz Werfel siedelte seinen 1931 publizierten Roman „Die Geschwister von Neapel“ (S. Fischer, 423 S., 24,70 EUR) in der kampanischen Hauptstadt an. Für die Erzählung von den sechs Schwestern und Brüder Pascarelli, die sich durch Flucht, Frömmigkeit, Krankheit und Tod der Herrschaft ihres tyrannischen Vaters entziehen, erschien dem Autor dieser Schauplatz geeignet, weil „in den meridionalen Ländern das Familiengefühl noch am stärksten erhalten blieb“, wie Werfel einmal erläuterte. Josef Winkler wählte den Titel seines 1990 erschienenen Romans „Friedhof der bitteren Orangen“ (Suhrkamp, 423 S., 13,40 EUR) nach einer tatsächlich existierenden Begräbnisstätte Neapels, die heute „Cimitero delle Fontanelle“ heißt. In der Überzeichnung katholischer Auswüchse pendelt Winkler dabei zwischen der Kärntner Provinz, Rom und Süditalien. Weniger schockierend: Das Neapel-Porträt „Das falsche Gold der Hinterhöfe“ von Humbert Fink, der einst den Bachmann-Preis mitbegründete, erschienen in Andreas Schlüters „Golf von Neapel. Ein Reiselesebuch“ (Ellert & Richter Verlag, 165 S., 12,95 EUR) oder jenes Erzählkapitel, das Karl-Markus Gauß in seiner Städtetour „Im Wald der Metropolen“ der theatralischen Inszenierung eines Abendessens an der Piazza San Francesco widmet (Zsolnay, 304 S., 20,40 EUR).
Nina Schedlmayer, "Profil".
Redazione
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Non farti cadere le braccia - Edoardo Bennato